Einmal kam einem Mann ein Kamel aus seiner Herde abhanden. Als er auszog, um es zu suchen, holte er in der Steppe einen Reiter ein. Sie begrüßten einander und steckten ihre Pfeifchen an.

„Ich habe ein Kamel verloren“, klagte der Mann. „Hast du es nicht gesehen?“

„Ist dein Kamel auf dem linken Auge blind, und fehlen ihm die Vorderzähne?“

„Jaja!“ rief der Mann froh. „Wo ist es denn?“ „Ich weiß nicht, wo es ist. Hat es einen abgeschnittenen Schwanz?“ – „Ja, ganz genau, Du hast es ja gesehen, wo ist es nur?“

„Ich weiß nicht, wo dein Kamel ist, ich sah nur gestern seine Spuren.“ Der Besitzer des Kamels glaubte ihm aber kein Wort, sondern beschuldigte den Reiter, es gestohlen zu haben, und führte ihn vor den Richter.

Der fremde Mann aber sagte zum Richter: „Ich kann noch mehr über das Kamel sagen und habe es doch nicht gesehen.“ – „Nun so sprich!“

„Auf der einen Seite trug es ein Fässchen mit Honig, auf der anderen einen prallen Sack Weizen.“ – „Jaja, er ist der Dieb“, rief der Besitzer des Kamels. Sogar der Richter glaubte das jetzt, doch fragte er den Angeklagten lieber noch einmal: „Hast du das Kamel gesehen?“ – „Nein.“ – „Woher aber weißt du das alles?“

„Nun, dass das Kamel auf dem linken Auge blind ist, sah ich daran, dass nur rechts von seinem Weg Gras abgefressen war.“ – „Und woher weißt du, dass es keine Vorderzähne hat?“ – „Beim Grasen blieben in der Mitte immer einige Büschel der schmackhaften Distel stehen.“ – „So. Und wie kannst Du wissen, dass es einen abgeschnittenen Schwanz hat, wenn Du es nicht gesehen hast?“ – „Nun, der Mist des Kamels war fest; das zeigte mir, dass es keinen Schwanz hat, um den Mist zu verteilen.“ – „Hm, hm. Und nun sag uns noch, woher du weißt, dass das Kamel Honig und Weizen trug?“

„Ganz einfach – auf der einen Seite des Weges saßen die Fliegen auf den Honigtropfen und auf der anderen hüpften die Spatzen und suchten Weizenkörner.“

„Ja, wenn das so war, dann glauben wir dir!“ riefen da der Richter und der Mann, der das Kamel verloren hatte, und gaben sich zufrieden.

Quellen: Die Wunderblume und andere Märchen der Völker der Sowjetunion. Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1955.
Auch zu finden in: Zauber und Wunder. Die Märchen der Welt, Reclam, Stuttgart o. J.


Für’s Coaching sind Geschichten hervorragend geeignet, denn: sagen lassen sich die Menschen nichts. Aber erzählen kann man ihnen alles!

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